Über Hans Kammerer
Zu seiner Zeit war Hans Kammerer schon so etwas wie ein Star, auch wenn diese Bezeichnung überhaupt nicht zu ihm passte, sondern eher auf die Spezies Architekt zutrifft, die seit den Achtzigern Glitzertürme in den Sand autoritärer Wüstenstaaten setzt. Der Stadt Stuttgart hat Kammerer aber zweifellos seinen Stempel aufgedrückt, als Hochschullehrer und Architekt der Wiederaufbau- und Nachkriegszeit, mit so prominenten Bauten wie der Daimler-Hauptverwaltung in Untertürkheim, dem Kleinen Schlossplatz und dem Geno-Haus. Die Commerzbank-Erweiterung und die Calwer Passage, damals als Wiedererweckung eines Bautyps aus dem 19. Jahrhundert tatsächlich die erste ihrer bald massenhaft verbreiteten Art, erregten dann auch überregionale Aufmerksamkeit. Und auch wenn nicht alles Gold war, was das Büro geplant hat, ist es doch schade, dass die Architektur von Kammerer und Belz allmählich aus dem Stadtbild verschwindet – als würde eine Ära ausradiert. Hoffentlich ist wenigstens den hervorragenden Wohnungs- und Siedlungsbauten des Büros eine längere Lebensdauer beschert.
Persönlich erinnere ich mich an Hans Kammerer als einen Mann, der die perfekte Kreuzung aus Schwabe und Kosmopolit verkörperte. Der Zungenschlag unüberhörbar schwäbisch, der Habitus unübersehbar weltläufig. Er war ein cooler Typ lange bevor die Art in Mode kam, sein stets leicht spöttischer Zug um die Mundwinkel wahrscheinlich seine auffälligste und zugleich charmanteste Eigenschaft. Nach dem wie mit dem Fahrtenmesser gescheitelten, soldatischen Heldenideal der Nazis war er der lebende Beweis, dass der deutsche Mann auch anders konnte, zum Glück! Rätselhaft bleibt dagegen, warum Hans Kammerer und sein langjähriger Büropartner und Wohnungsnachbar Walter Belz sich ein Leben lang siezten. Da waren sie gar nicht locker. Vielleicht waren sie als Temperamente auch einfach zu gegensätzlich; andererseits agierten sie ja als höchst erfolgreiches Team ...
Unvergessen bleibt mir eine Rede von Günter Behnisch zum 70. Geburtstag von Hans Kammerer. Behnisch, der sonst immer ein bisschen streng wirkte, riss dabei mit ungeahntem Sinn für Pointen das Publikum zu Lachstürmen hin über Begebenheiten aus dem Leben des zerstreuten Professors Kammerer. Zum Beispiel der Geschichte, wie er sich einmal auf den Rücksitz seines Autos warf, in der Annahme, es wäre ein Taxi, und erst nach einiger Zeit, in der er in irgendwelche Akten vertieft war, bemerkte, dass er immer noch auf dem Parkplatz vor seinem Büro stand. Oder wie er zuhause mit Karacho auf das Auto seiner Frau auffuhr, weil es an jenem Tag auf der „falschen“ Seite in der Doppelgarage geparkt war.
Am Herzen lag ihm, dessen Ehe kinderlos blieb, der studentische Nachwuchs. Darum brachte er einen großen Teil seines Vermögens in eine Stiftung ein, die Hans und Maiti Kammerer Stiftung, die mit Vorlesungsreihen und Förderbeiträgen zu Tagungen, Wettbewerben und Preisen die Ausbildung an der Architekturfakultät der Universität Stuttgart unterstützt.
Amber Sayah in Ihrem Kommentar für die 100 Jahre Hans Kammerer Ausstellung, 2021
Hans Kammerer gehörte einer anderen Generation an. Er war ein Freund meines Vaters, wahrscheinlich sein engster, und so habe ich ihn immer mal wieder eher im Privaten getroffen. Als ich meine berufliche Laufbahn begann, setzte er sich schon bald zur Ruhe, so hatten wir beruflich keine Berührungspunkte. Unsere Begegnungen jedoch waren immer interessant, amüsant, lustig und auch von ernsthaften Gesprächen geprägt.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine gemeinsame Reise mit den Kammerers, meinen Eltern und der Familie Lauber durch Obervolta (Burkina Faso) und Mali. Das muss 1982 gewesen sein. Eine großartige Reise durch die Sahelzone! Wir waren mit drei Landrovern und Zelten, Hängematten und Moskitonetzen unterwegs. Hans Kammerer war immer ein interessanter Gesprächspartner, auch wenn ihn damals offensichtlich die Sorge des Ruhestandes umtrieb, insbesondere die Sorge, man müsse vielleicht dann „kleinere Brötchen backen“. Wir hatten alle aus Platzgründen sehr wenig Gepäck dabei. Trotzdem schaffte er es, 20 T-Shirts mit dem Konterfei seines Büroteams aufgedruckt – ein Geschenk der Mitarbeiter:innen zum 60. Geburtstag – dabei zu haben und diese den Bewohner:innen eines abgelegenen Dorfes zu überlassen. Das dort entstandene Gruppenbild, ein Polaroid, wurde dann als Postkarte an das Büro gesendet. Das war sein Humor.
Zu Silvester zog er aus seinem Koffer EINE Feuerwerksrakete und EINE warme Flasche Champagner – mit dem Hinweis, es gäbe Grenzen des Verzichtes. Und das mag das einzige Problem gewesen sein, wenn es zur Umsetzung seiner Architektur kam.
Hans Kammerer war ein sehr guter Architekt, insbesondere seine Wohnhäuser haben mich beeindruckt. Aber vielleicht war er dann doch zu schnell bereit, Kompromisse zu schließen wenn es zu mühsam wurde. Dies könnte das doch etwas gemischte Portfolio erklären. Als Studenten haben wir uns an der Arbeit, zumindest Teilen der Arbeit seines Büros gerieben. Ihn persönlich jedoch habe ich immer geschätzt, ihn gemocht. Und er war ein großzügiger, humoriger Mensch im persönlichen Umgang.
Stefan Behnisch in seinem Kommentar für die 100 Jahre Hans Kammerer Ausstellung, 2021
Kammerer sah seine Lehre eingebettet in das Gesamtkonzept „Stuttgarter Schule“, für das er sich verantwortlich fühlte und das nur institutsübergreifend fortentwickelt werden konnte. „Er war derjenige Architekt und Lehrer, der die Essenz der über drei Generationen entwickelten Stuttgarter Schule am besten praktiziert und gelehrt hat.“(08) Er hat sie in Stil, Charakter und Qualität wesentlich mitgeprägt.
In einer Ansprache zur Verleihung des Fritz-Schumacher-Preis 1976 formuliert er die Haltung des Büros: „Wie fast alle unsere Mitarbeiter kommen wir aus der sogenannten „Stuttgarter Schule“, die ihren Studenten eine Mischung von soliden handwerklichen Grundlagen und ein breites Angebot an Entwurfsauffassungen vermittelte. Wir haben die Schule nicht mit dem untilgbaren Brandzeichen eines großen Lehrers verlassen, sondern eher mit einer vielseitigen Neugier, Aufgaben ohne Rezept anzupacken und kommen schon deshalb auf die Frage nach unserem ‚Stil’ in Verlegenheit.“ (09)
Da die „Stuttgarter Schule“ in Vergessenheit geraten sein könnte oder nur noch als Mythos existiert, hier aus Jürgen Joedickes Beitrag zur Festschrift zum 150jährigen Bestehen der Universität Stuttgart 1997 einige Hinweise : Nach dem 1. Weltkrieg „ ... führte Stuttgart ... Als erste Architekturabteilung einer technischen Hochschule die praktische Tätigkeit für die angehenden Architekten ein; Handwerkspraxis und Büropraxis wurde in den Studiengang integriert. Praktische Tätigkeit auf dem Bauplatz vor Beginn des Studiums sowie eine Zwischenpraxis im Büro und als Bauführer waren obligatorisch. ... eine entscheidente Änderung, daß der Student in den ersten Semestern nicht mit architekturfremden Fächern vollgestopft wurde, sondern mit Studienbeginn zu konstruieren und zu entwerfen begann ... im 3. und 4. Semester ... bearbeitete der Student ... selbstständig den konstruktiven Entwurf auf Grund eines vorgegebenen Programms. ... Nach dem Vordiplom waren fünf Entwürfe vorgeschrieben, dazu eine Anzahl von Wahlfächern. Entwerfen konnte nach freier Wahl bei allen Entwurfslehrern belegt werden. Bedingung aller Entwürfe war die Ausarbeitung bis zum Werkplan, bis zum Detail. Die Benotung der Entwürfe und der Diplomarbeit wurde von allen Entwurfslehrern gemeinsam vorgenommen. Die Entwurfskonferenz am Ende jeden Semesters war das prägende Element dieser Schule. In freier offener Aussprache, aber auch in gegenseitiger, oft scharfer Kritik der Hochschullehrer untereinander wurden nicht nur die Noten ausgehandelt, sondern auch die Konturen einer gemeinsamen Architekturauffassung erarbeitet. An dieser Entwurfskonferenz nahmen die Assistenten mit gleichem Recht teil.“
Ekkehardt Betram in seinem Kommentar für die 100 Jahre Hans Kammerer Ausstellung
Mein erster Kontakt mit der Architektur Hans Kammerers erfolgte lange Zeit, bevor ich nach Stuttgart kam. Mein akademischer Lehrer Heinrich Klotz in Marburg, der damals – 1979 – begann das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main aufzubauen, verwies uns junge Kunstgeschichtsstudierende nämlich auf die Commerzbankerweiterung an der Stiftskirche und die Calwer Passage als bedeutende Beispiele für eine neue Architektur in Deutschland, die man später Postmodere nannte. So richtig begeistert hatten mich diese Projekte damals nicht, aber vielleicht hatte Klotz dann doch etwas in meinen Kopf gesetzt, was ich nicht vergessen sollte. Als ich zehn Jahre später als Assistent an das Institut für Architekturgeschichte der Universität Stuttgart kam, gehörte die Besichtigung beider Bauten jedenfalls zu meinem Programm. Aber es brauchte nochmals zehn Jahre, bis ich endlich begriff, worin denn die Qualität dieser Bauten besteht und was sie so besonders macht. Ich hatte mich viel mit der Architektur Rolf Gutbrods beschäftigt, einiges über Brutalismus gelernt und auch andere Werke Kammerers studiert. Jetzt erst verstand ich die Bauten in ihrem historischen Kontext und ihre Qualitäten offenbarten sich mir mehr und mehr. Das war ja keine Postmoderne, wie sie James Stirling mit vielen Zitaten an der Staatsgalerie inszenierte, sondern eine sehr eigenständige Architektur. Selbstbewusst spielen Kammerer und seine Partner mit dem historischen Umfeld, setzen Zitate aus der Vergangenheit ein, jedoch sind die Konzepte nicht auf Fiktion ausgelegt, sondern sehr funktional, brutalistisch in der Form- und Materialwahl, unkonformistisch und neu. Auch der Städtebau, den das Büro mit diesen Bauten in dichten urbanen Situationen entwickelte, erschloss sich mir nun. Die Wohnungen auf der Calwer Passage faszinierten mich ebenso wie der verdichtete Wohnbau für den das Büro bis in die 1970er Jahre stand. Viele Themen zu Bodennutzung und zur Verdichtung, die wir heute wieder diskutieren, hat Kammerer vorweggenommen und vorbildlich gelöst. Dank der Unterschutzstellung vieler Bauten und Siedlungen können sich diese hohen Qualitäten bis heute beweisen.
An der Universität habe ich Kammerer nicht mehr erlebt, er war 1987 emeritiert. Seine ehemaligen Assistenten aber konnten noch viele Anekdoten über ihn erzählen, er war wohl ein Kauz, der schwäbelnd sympathisch seine immer gut begründeten, nicht immer dem Mainstream folgenden Positionen vertrat. Wie aus seinen zahlreichen Redebeiträgen und einer fiktiven Geschichte der Fakultät aus seiner kritischen Sicht herauszulesen ist, hat er viele Entwicklungen in den 1970er Jahren nicht gutgeheißen. Soziologie war ihm ein Graus, Informatik wollte er nicht verstehen, Denkmalpflege war nicht sein Ding. Er wollte entwerfen, bauen, gestalten und mit seinen Bauten beweisen, dass es gute Architektur und Städtebau braucht, damit Städte und Dörfer lebenswert bleiben.
Es hat mich sehr gefreut, dass die Teilnehmer:innen meines Projekts zu Hans Kammerer im Sommersemester 2021 sich von meiner Begeisterung anstecken ließen und diese digitale Ausstellung realisiert haben. Sie organsierten sich selbst und arbeiteten selbständig. Nur staunend konnte ich verfolgen, wie sie die Webseite gestalteten und konzipierten. Die Ausstellung ist eine runde Sache geworden und die Webseite wird hoffentlich noch lange genutzt werden. Allen sei hiermit sehr gedankt!
Prof. Klaus Jan Philipp in seinem Kommentar für die 100 Jahre Hans Kammerer Ausstellung